Das Jahr 1941

Nun lasse ich noch eine weitere Begebenheit aus den ersten Kriegsjahren folgen:

Bis zum Herbst des Jahres 1939 gibt es nichts Besonderes zu berichten. Der erste Schultag hatte auch uns Erstklässler voll in Beschlag genommen. Man könnte aber auch sagen, es war die Ruhe vor dem Sturm. Am 1. September 1939 verkündete der Rundfunk, Deutschland habe Polen den Krieg erklärt und sei bereits auf dem Vormarsch. Fortan gab es ständig Sondermeldungen, die über die Deutschen Erfolge berichteten. An diesem Tage bekam Deutschland ein anderes Gesicht. Riesige Erfolge hatte die deutsche Wehrmacht zu verzeichnen. Der Größenwahn eines in Deutschland lebenden Österreichers, auch Hitler genannt, war nun nicht mehr zu bändigen. Am 22. Juni 1941 ließ er die Deutschen Truppen in die Sowjetunion einmarschieren. Ja, Hitler benötigte nicht einmal eine Kriegserklärung! Es war der Tag, an dem die ganze Welt Deutschland verachtete.

Aus meiner heutigen Sicht muss ich feststellen, dass der größte Teil der deutschen Bevölkerung dieses Handeln mitgetragen hat. Meine damaligen Spielkameraden waren alle so in dem Alter zwischen 8 und 12 Jahren. Heute wissen wir, Kinder geben das wieder, was die Eltern in solchen Fällen so reden. Man sprach von höchstens drei bis vier Monaten Krieg in Russland, dann ist alles vorbei. Nur ich hatte eine andere Meinung. Obwohl mein Vater sehr vorsichtig war, hatte ich mitbekommen, dass mein Vater sagte „Den Krieg verliert Deutschland.“ In meiner Dummheit plauderte ich diese zu Hause gehörten Worte, natürlich aus. Dass ich dadurch meine Eltern in Schwierigkeiten bringen könnte, war mir nicht bewusst. Am Abend, wir saßen am Tisch und aßen unser Abendbrot, plötzlich klopfte es an unserer Küchentür. Nichts ahnend riefen meine Eltern „Herein.“ In der Tür stand der Vater meines Freundes und wollte meine Eltern unter vier Augen sprechen. Wie ich in späteren Jahren erfahren habe, war auch er zu jener Zeit von den vier Monaten überzeugt. Dennoch wollte er nicht, dass meine Eltern Schwierigkeiten bekommen, und berichtete, was ich den anderen Kindern gesagt habe. Vollständig aufgelöst kamen hiernach die Eltern zu mir und wollten nun wissen, was ich da draußen erzählt habe. Vater beruhigte sich zuerst und nahm mich beiseite. Sachlich, ohne Hektik und für mich in diesem Alter verständlich, hat er mir dann erklärt, warum ich solche Äußerungen nie mehr von mir geben dürfe. Ich glaube, ich hatte es verstanden. Dieses Verstehen wurde noch bestärkt, als dann im Sommer des Jahres 1942 mitten in der Nacht Gewehrkolben gegen unsere Küchentür schlugen und Einlass befahlen. Vater wurde von der SA und der Gestapo verhaftet und zum Gestapogefängnis nach Bochum gebracht. In den folgenden Tagen lösten sich Hoffen und Bangen ständig ab. In unserer Nachbarschaft wohnte eine Frau, die bei der Gestapo im Büro tätig war. In ihrer Not ging meine Mutter zu ihr und bat um Hilfe - Vater hatte zu dieser Zeit schon eine mittelschwere Silikose (Steinstaublunge), war aber immer noch im Bergbau tätig. Ob nun meine kindliche Äußerung vom Vorjahr eine Rolle gespielt hat, konnte nie aufgeklärt werden. Unter Tränen trug Mutter der Nachbarin ihre Bitte vor. Den Hinweis, mein Vater habe doch nie einem Menschen etwas zuleide getan, nahm sie gar nicht zur Kenntnis. Hätte sie gesagt: „Ich bin auch nur eine Angestellte“, Mutter hätte damit leben können. Sie aber antwortete trotz meiner Anwesenheit mit den Worten: „Wenn unser Führer so etwas angeordnet habe, dann hat es auch seine Richtigkeit.“

Aber genau diese Frau bedrängte meinen Vater dann nach dem Kriege, er möge doch bei der Entnazifizierung für sie eine gute Beurteilung abgeben. Es ginge doch um ihren Posten bei der Polizei, den sie unter keinen Umständen verlieren wollte. Auch ohne meines Vaters Wohlwollen, ihren Posten bei der Polizei behielt sie. Die Moral von dieser Geschichte, es gab auch damals schon Seilschaften.

 

ENDE