Der kleine Russe

Mit meinen eigenen Erlebnissen und denen meines Bruders, die ich aber auch wahrgenommen habe, lasse ich diese Zeit noch einmal an mir vorüberziehen. Wie in meinem ersten Absatz bereits geschildert, es war Krieg und alles nahm seinen Lauf. Auf dem besagten Gelände wurden diese Baracken errichtet. Leider kann ich heute nicht mehr sagen, ob es 1941, oder auch ein Jahr später gewesen ist. Ich kann mich nur daran erinnern, dass zu dieser Zeit mein Bruder Walter im Bergbau auf der Zeche Holland in Wattenscheid beschäftigt war. Dass die Zwangsarbeiter trotz ihrer schweren Arbeit hungern mussten, bedarf wohl heute keiner besonderen Erklärung mehr. Ich kann mich noch daran erinnern, dass mein Bruder einmal von der Arbeit kam und einen sehr großen Hunger hatte. Eigentlich ist es ja in diesem Alter, er wurde 16 Jahre, ganz normal. Meiner Mutter fiel aber auf, dass irgendetwas nicht mit ihm stimmte. Auf die Frage: „Ist dir eine Laus über die Leber gelaufen“, antwortete er: "Ich habe meine Brote dem kleinen Russen gegeben. Er ist mir zugeteilt worden, weil ich bei meiner Arbeit einen zweiten Mann benötige. Zu Beginn unserer Schicht, wir setzten uns, um zu buttern. (So nennt es der Bergmann, wenn er seine Brote isst) Als ich sah, wie ihm beim Auspacken der Brote, das Wasser im Munde zusammenlief, hab ich sie ihm gegeben. Er traute sich nicht, aber am liebsten hätte er mich umarmt.“

Wir hatten nun alle nicht viel, es war ja Krieg. Aber das konnte meine Mutter nicht übers Herz bringen. Fortan bekam mein Bruder immer die doppelte Menge Brote mit zur Arbeit. Der Bergmann hatte doch die größte Lebensmittelkarte. Wissen, was die Mutter machte, durfte niemand.

Auf die Frage meiner Mutter: „Achtest du denn auch darauf, dass es niemand sieht, wenn du ihm die Brote gibst?“

„Ja“, war die Antwort, „darauf kannst du dich verlassen. Aber der arme Kerl tut mir ja so leid.“ Im weiteren Verlauf des Gesprächs erklärte er dann, dass auch er die ihm übertragenen Arbeiten zu verrichten habe. Wie er es schafft, danach fragt niemand. Ja, und wenn es einmal nicht so funktioniert, wie ich es mir vorstelle, dann muss ich auch mal richtig schimpfen. Wenn ich dann sage: "Mein Gott, nun pack doch mal mit an!" Sagt er immer: „Nicht nur deine Gott, meine Gott auch.“ Mit einem traurigen Gesicht schaut er mich dann an und sagt: „Du meine liebe Satan.“ Ich muss dann immer lachen. Er lernt sogar Deutsch.

Eines Tages kam mein Bruder ganz traurig von der Arbeit nach Hause. Meine Mutter sah es ihm sofort an, dass irgendetwas nicht stimmte. Sie fragte:

„Was ist denn geschehen?“ Worauf er nur antwortete: „Er ist nicht mehr bei mir. Der Steiger fragte mich heute auch, ob ich denn wohl genügend Brote mitbekommen hätte?“

Das war ein Warnschuss!!

Meine Eltern vermuteten, dass der kleine Russe, ich glaube, Pjotr hieß er, in seiner Gutgläubigkeit seinen Kollegen von seinem Glück, die Brote zu bekommen, erzählt haben muss. Und ein Anderer, um sich Vorteile zu verschaffen, der Lagerleitung das gemeldet hat. Den kleinen Pjotr jedenfalls, hat mein Bruder nie mehr gesehen.