Die letzten Kriegstage

Der Krieg ging zu Ende, das Donnern der Kanonen war immer deutlicher zu hören. Dann, eines nachmittags in den letzten Tagen des Monats April im Jahre 1945. Ich war inzwischen in meinem zwölften Lebensjahr, sahen wir in Muldenstein die ersten amerikanischen Soldaten. Nun konnten wir davon ausgehen, dass der Krieg tatsächlich zu Ende sei. Am 8. Mai 1945 vermeldete der Rundfunk, Deutschland hat bedingungslos kapituliert.

Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern. Mutter hatte nur zwei Gedanken, wo mag Walter sein, lebt er noch und wie kommen wir nach Hause. Nach drei bis vier Wochen begann sich das Eine, oder das Andere aus dem Chaos zu befreien. Es wurde auch wieder gelacht und gefeiert. Genau uns gegenüber hatte eine Kölnerin mit ihren zwei Töchtern, sie waren so zwischen 18 und 20 Jahre, auch ein Zimmer. Mutter war es zuerst aufgefallen, dass dort plötzlich farbige amerikanische Soldaten ein- und ausgingen. Dort wurde gefeiert, was das Zeug hergab. Dann, es sickerte durch, Deutschland werde in Zonen aufgeteilt. Nun konnte Mutter keiner mehr halten, sie wollte nach Hause. Unsere Wohnung in Wattenscheid hatten wir ja noch. Die Eltern trafen alle Vorbereitungen. Vater besorgte einen Bollerwagen, auf dem unsere Habe geladen wurde. In unserer Gegend waren alle Brücken über die Mulde gesprengt.

Wir mussten noch zwei Tage warten, bis dass die Amerikaner ihre erste Behelfsbrücke fertiggestellt hatten. Doch dann sah Mutter am letzten Abend, wie die Amerikaner mit russischen Offizieren, zu der Kölner Familie kamen. Nun war das Geschrei groß. Aus heutiger Sicht würde ich sagen, es war eine Übergabe, die vergnügungssteuerpflichtig war.

Der Tag war gekommen und die Zeit drängte. Mutter wollte es so schnell wie möglich schaffen, in die voraussichtlich britische Zone zu kommen. Zu unserem Glück, so schnell ging es nun doch nicht. Wir zählten in der Frühe zu den ersten Menschen, die hinüber auf die andere Seite der Mulde wollten. Die Brücke war wirklich ein Behelf. Soldaten halfen uns, mit unserem Bollerwagen die Brücke zu passieren. Auf der anderen Seite angekommen, gab es eine kleine Verschnaufpause und dann ging es los. So weit die Füße tragen.

Wir hatten nun eine lange Strecke vor uns. In Muldenstein begonnen, führte unser Weg über Sandershausen, Sangerhausen, Sondershausen, Heiligenstadt, Hann. Münden, Bad Arolsen, Brilon, Arnsberg und von dort aus mit dem Zug nach Wattenscheid. Es waren schon einige Hundert Kilometer, die wir zu Fuß zurückgelegt haben. Insgesamt haben wir gut drei und eine halbe Woche für diesen langen Fußmarsch benötigt. In der ersten Woche waren wir noch bei Kräften. Es gab Tage, da haben wir fünfundzwanzig bis dreißig Kilometer geschafft. Nach einer Woche ließen die Kräfte nach. Glücklich schätzen wir uns, wenn zehn bis fünfzehn Kilometer zurückgelegt werden konnten. Unser Tagespensum, das heißt, die einzelnen Etappen kann ich heute nicht mehr beschreiben. Ich weiß nur, dass wir so manche Nacht im Heu oder im Stroh verbracht haben. Wollten unsere Füße nicht mehr, haben wir dort, wo gerade ein Bauernhof war, um Einlass zum Übernachten gebeten. Nicht immer waren wir willkommen. Es konnte auch passieren, dass wir dann zum nächsten Bauern gegangen sind. Auch wenn es noch zwei oder drei Kilometer waren. Wie schon eingangs bemerkt, es begann sich in Deutschland, wieder einiges zu regen. Hier und dort sah man auf den Straßen auch schon wieder ein Auto vorbei fahren. Wenn es ein LKW war, versuchten wir ihn anzuhalten und baten, doch ein Stück mitgenommen zu werden. War das Fahrzeug nicht beladen, nahm man uns so manches Mal zehn oder fünfzehn Kilometer mit. Das war für uns wie Weihnachten. Hatten unsere Füße in dieser Zeit doch schon sehr gelitten. Umwege, die uns genützt hätten, machten die Fahrer nicht. Das Benzin war doch zu knapp und fasst nur auf dem Schwarzmarkt zu bekommen. Dennoch, für uns war jeder Kilometer, den wir nicht laufen mussten, eine Erholung. Die Tage vergingen und wir näherten uns Brilon. Kaum fassbar, neben uns hielt ein LKW: „Wohin wollt ihr?“, fragte uns der Fahrer, „Ich fahre nach Arnsberg und dort fahren auch schon wieder Züge.“ Überglücklich nahmen wir dieses Angebot an.

 

ENDE