Der Sturz in die Tiefe

Es war im Jahr 1958, bei der Fußballweltmeisterschaft in Schweden wurden gerade die Halbfinalspiele ausgetragen. Deutschland spielte im Halbfinale gegen Schweden. Das Spiel begann, wenn ich mich noch richtig erinnere um 20:00 Uhr. Zu dieser Zeit war ich auf (so sagt der Bergmann) einer kleineren Zeche in Bochum Weitmar, die aber ihren Hauptsitz in Wattenscheid Höntrop hatte, beschäftigt. Die Zeche befand sich noch im Aufbau und wir waren gerade dabei, einen Schacht zu teufen. Zu allem Übel hatte ich in dieser Woche Mittagschicht. Das heißt, Arbeitsbeginn war um 14:00 Uhr und Arbeitsende um 22:00Uhr. Mit einem langen Gesicht kam jeder Kollege zur Arbeit. Ein Arbeitskollege brachte ein Kofferradio mit. Die Morgenschicht hatte alles vorbereitet, die Segmente waren ausgerichtet. Wir konnten also mit dem Betonieren beginnen. Abgeteuft hatten wir zu diesem Zeitpunkt eine Tiefe von 160 Meter und hatten den Durchbruch zur ersten Sohle geschafft. Genau kann ich es nicht mehr sagen. Aber ich glaube, der Schacht hatte einen Durchmesser von acht Meter. Vorgefertigte Segmentteile waren zu einem Kreis mit dem eben genannten Durchmesser verbunden. Die Segmenthöhe betrug drei Meter und wurde, wenn das Gestein abgebaut war, wieder um drei Meter herabgelassen und anschließend ausgelotet. Der Beton, um den Kreis auszugießen, wurde über Tage angemischt und dann in 150ziger Rohre hinabgelassen. Zwischen der Sohle (Boden) des Segments und dem zuletzt abgebauten Gestein betrug die Höhe immer um die 6 bis 7 Meter. Der Segmentboden musste also immer vollständig abgedeckt sein. Ansonsten war die Unfallgefahr, dass jemand abstürzt, zu groß. Hier muss ich noch einfügen, der Stammbetrieb war gerade mal fünfhundert Meter von meiner Wohnung entfernt. Wenn es also etwas an Material zu bestellen gab, hatte ich dieses immer zu verrichten. Im Boden unseres Segments hatten wir einen Quadratmeter der nicht abgedeckt werden konnte. Es fehlten uns die dazu notwendigen Bohlen. Also suchte ich mindestens drei oder viermal die Verwaltung auf und bat um Lieferung der fehlenden Bohlen. Sie kamen aber nicht.

Es geschah, was nicht geschehen sollte. Wir fünf Kollegen beratschlachteten nun, wie wir es anstellen könnten, doch das Spiel im Radio zu verfolgen. Nach einer entsprechenden Diskussion kamen wir überein, die personelle Arbeitseinteilung zu ändern. Durch diese Änderung waren wir in der Lage, den doch immer noch von Hand mit einer kleinen Mischmaschine herzustellenden Beton, in größeren Mengen zu mischen. Einer unserer Kollegen, ein Mann wie ein Baum sagte uns: „Ich fahre alleine nach unten.“ Nun muss ich sagen, das von oben zu füllende Fallrohr, hatte am unteren Ende einen beweglichen Schlauch in gleicher Stärke. Es war ein Gummischlauch, mit dem man in die Runde gehen konnte, um das Segment zu füllen. Normal führen diesen Schlauch zwei Personen. Wir hatten uns aber, wie bereits beschrieben, auf einen geeinigt, ohne daran zu denken, dass in der Segmentmitte eine Luke von einem Quadratmeter war. Läuft alles normal, gibt es auch bei dieser Lösung kein Problem. Wir wollten bis 19:00 Uhr fertig sein, also begannen wir, die ersten Chargen zu mischen. Gut zwei Stunden funktionierte alles wie am Schnürchen. Der Beton schoss nur so hinunter. Das Schicksal wollte es, dass der Beton an irgendeiner Stelle im Rohr auf einmal stecken blieb, um dann anschließend mit einer ungeheuren Wucht wieder hinunterzufallen. Als dieser Beton dann den beweglichen Teil des Rohres erreichte und der Druck sich erhöhte, konnte unser Kollege unten den Schlauch nicht mehr halten und stürzte durch die ein Quadratmeter große Öffnung in die Tiefe. Wir merkten oben, dass der Beton nicht mehr so lief wie vorher, und öffneten die Schachtabdeckung. Ganz leise hörten wir noch einen Hilferuf. Was passiert war, konnte sich jeder von uns denken. Um zu helfen, war höchste Eile geboten. Wie es da unten aus sah, konnte sich ein jeder denken. Wer fährt hinunter und holt den Verletzten. Es traute sich zunächst niemand zu. Ich sagte: „Ich fahr hinunter, wer kommt mit?, denn alleine kann ich es auch nicht.“ Ein erfahrener Arbeitskollege, Willi Ebersberg war sein Name, meldete sich und sagte mir:

„Siegfried komm, ich fahr mit.“

Der unten auf dem Segment stehende Kübel, wurde so schnell es ging hochgezogen. Dieser Kübel, der auch zum Beladen des abgebauten (gesprengten) Gesteins benutzt wurde, hatte einen Durchmesser von heute geschätzten einen Meter und vierzig Zentimetern. Er hatte eine ungefähre Höhen von 1,3 Meter. Mein Kollege und ich, wir setzten uns hinein und die oben gebliebenen Kollegen ließen uns hinab. Um Signale geben zu können, war ein bis unten hängendes, dünnes Stahlseil, dass wir vom Kübel aus greifen konnten. Dieses Seil war über Tage mit einer Presslufthupe verbunden. Wir erreichten den Boden des Segments und gaben mit einem Signal (einmal kurz) an, dass wir angekommen sind. Dass in der Mitte des Segmentbodens vorhandene ein Quadratmeter große Loch, hatte sich durch den Aufprall vergrößert. Zuerst gaben wir dem Verletzten ein Zeichen, dass ihm geholfen wird. Durch unsere letzte Sprengung, mit der wir den Durchbruch zur ersten Sohle schafften, bildeten die gesprengten Steine eine Böschung von einigen Metern. Genau auf dieser Böschung, voller Blut, lag nun unser verletzter Arbeitskollege. Zu unser aller Glück, lag er dort mit dem Kopf nach oben, also in Richtung seiner Absturzstelle. Eine Mann, wie ein Baum gewachsen, kann man nun nicht so einfach in den Kübel heben. Außerdem wussten wir ja nicht, welche Verletzungen er hatte. Mein Kollege, der beim Erreichen des Segmentbodens ausgestiegen war, musste nun den Kübel beim weiteren herablassen so führen, dass ich den Verletzten bergen konnte. Mit dem Hupzeichen einmal lang und zweimal kurz zeigten wir den Kollegen oben an, dass der Kübel ganz langsam herabgelassen werden sollte. Das Zeichen einmal kurz, bedeutete immer halt. Vom Boden des Segments dirigierte mein Kollege den Kübel so, dass die Öffnung, nachdem wir ihn in die Endlage gebracht hatten, vor den Füßen des Verletzten lag. Ich hatte nun die Möglichkeit, unseren Verletzten in den Kübel zu ziehen. Im Kübel war danach kein Platz mehr. Auf dem Kübelrand stehend und mich am Förderseil festhaltend, ging es mit dem Zeichen langsam auf bis zur Segmenthöhe. Mein Kollege stellte sich ebenfalls auf den Rand. Dann gaben wir das Zeichen, den Kübel hochzuziehen. Ich weiß es heute noch, wie uns, als wir da drauf standen, der Arsch eins zu einhunderttausend ging. Unsere oben gebliebenen Kollegen hatten dafür gesorgt, dass über Tage, unmittelbar vor dem Schacht, alle nur erdenklichen Hilfen wie Notarzt und Krankenwagen usw. zur Verfügung standen. Auf dem schnellsten Wege wurde der Kollege ins Bergmannsheil nach Bochum gebracht. Das Fußballergebnis habe ich dann am anderen Tag erfahren.

Diese beiden Erlebnisse waren für mein späteres Leben von großer Bedeutung.

 

ENDE